Matthew Barney: Hier verstehen die Europäer American Football endgültig nicht mehr - WELT (2024)

Der Schöpfer des visionären „Cremaster“-Zyklus ist zurück – mit einer amerikanischen Tragödie. An fünf Orten gleichzeitig führt der Künstler Matthew Barney nun eine „Überlagerung von Gewalt und Spektakel“ auf.

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Der Amerikaner Matthew Barney ist der Richard Wagner unter den zeitgenössischen Künstlern. Seine multimedialen, opulenten Werke entstehen in Zyklen, die um einige wenige Leitmotive kreisen. Das ist sehr aufwendig, weshalb sich in diesem Sommer seine vier Galerien (Max Hetzler in Paris, Gladstone in New York, Sadie Coles HQ in London und Regen Projects in Los Angeles) mit der Pariser Fondation Cartier zusammengetan haben, um den neuesten Wurf in fünf Ausstellungen zugleich zu präsentieren.

Die Hauptbühne bildet die Fondation Cartier. In der gläsernen Ausstellungshalle des Museums, das Jean Nouvel vor 30 Jahren für die Stiftung des zum Luxusgüterkonzern Richemont gehörenden Juweliers entwarf, liegt ein in den Farben Orange, Gelb, Rot und Lila gehaltener Kunststoffteppich, der wie ein Footballfeld dimensioniert ist.

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Von der Decke hängt ein Jumbotron, ein riesiger Fernseher mit vier Bildschirmen, die leicht zum Boden hin geneigt sind. Jumbotrons kommen meist bei Konzerten und Sportveranstaltungen zum Einsatz und zeigen den entfernt vom Geschehen sitzenden Zuschauern Großaufnahmen. Dieser Apparat zeigt aber nicht auf jeder Seite dasselbe Bild, was zum Herumwandern einlädt.

Matthew Barney erkundet die Mythologie der Moderne

Vom ersten Stockwerk hat man die Übersicht – und erkennt im Teppich ein Oval, das von einer horizontalen Linie durchkreuzt wird. Dieses Symbol, das „Field Emblem“, zog sich bereits durch den „Cremaster“-Zyklus, den Barney von 1994 bis 2002 geschaffen hatte und der aus fünf Filmen und zahllosen einzelnen Kunstwerken besteht. Das Oval steht für das Organische, der Balken für die vom Künstler selbst gewählte Beschränkung, an der er sich abarbeitet.

Im Jahr 1967 in San Francisco geboren, spielte Matthew Barney einst College-Football für die Yale University. Hier zitiert er sich selbst und erkundet wie in „Cremaster“ weiter die Mythologie der Moderne – unter besonderer Berücksichtigung des Körperlichen.

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Sein neues Werk „Secondary“ (2023) dauert eine Stunde und handelt von dem tragischen Football-Match zwischen den Oakland Raiders und den New England Patriots vom 12. August 1978, bei dem zwei Spieler aufeinanderprallten. Dabei wurde Darryl Stingley am Rückenmark verletzt und war infolgedessen gelähmt.

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Was auf den Bildschirmen läuft, ist nun allerdings kein historisches Football-Spiel, sondern die antitheatralische Abstraktion eines solchen, eine Abfolge aus Gesten und Verrichtungen im Atelier des Künstlers in Long Island City, das einem Hangar ähnelt. Hier werden Skulpturen aus Blei, Aluminium, Terrakotta geformt. Es sind Materialien, deren Elastizität, Brüchigkeit und Fähigkeit, Erinnerungen zu speichern, Barney mit Charaktereigenschaften vergleicht – ein bisschen Joseph Beuys steckt auch in ihm.

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In den Trikots der NFL-Teams performen Tänzer und Schauspieler, Sänger, Musiker und Choreografen, die alle schon mittleren Alters sind – wie auch Barney selbst, der den Quarterback Ken Stabler spielt. Die Geräuschkulisse ist eigenwillig.

Man hört körperliche Anstrengung, Acapella-Gesang, den Sound von Werkzeugen und bewegten Gegenständen, ein Schaben und Schieben, Keuchen und Trällern. Eine maskuline, körperbetonte Kunst, die fast ein wenig aus der Zeit gefallen wirkt.

Alle läuft im Loop

„Secondary“ stellt den Betrachter vor gleich mehrere Herausforderungen. In Paris und überhaupt in Europa kennt kaum ein Mensch die Regeln des Spiels American Football. Die eigene Unkenntnis verlängert den Anlauf, den man nehmen muss, um sich der Arbeit zu nähern noch einmal, und der ist auch so schon lang.

Nie erlaubt es uns Barney, wie noch in seinen „Cremaster“-Filmen oder im ebenso bildgewaltigen wie verstörenden „Rivers of Fundament“ (2014), uns im Strom der Bilder einfach treiben zu lassen. Es gibt keinen designierten Platz, von dem man aus die Installation sehen müsste oder einen Anfang – alles läuft im Loop.

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Man weiß aber, dass es ein Ereignis gibt, auf das alles zuläuft und so schaut man und schaut und wartet auf den Hollywood-Moment, der aber nicht kommt. Das, was man Spielfluss nennt, also den Flow von Aktionen, gelungenen oder nicht gelungenen, zum Treffer führenden oder an der Verteidigung scheiternden, einen solchen Spielfluss gibt es in „Secondary“ nicht.

Matthew Barney, der in der Fondation Cartier vor dreißig Jahren seinen ersten „Cremaster“-Film zeigte, spricht von der „komplexen Überlagerung von Gewalt und Spektakel, die dem American Football und im weiteren Sinne der amerikanischen Kultur innewohnt“. Die extremen physischen und psychologischen Bedingungen dieses Spiels kenne er selbst, sagt er, sie flössen in seine Arbeit ein.

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Doch Barney ist bei allen Verweisen im Herzen Kryptiker. Sein Werk erklärt sich vor allem aus sich selbst heraus oder in Bezug auf ein arkanes System wie die altägyptische Mythologie in „Rivers of Fundament“.

In einem Kunstbetrieb, der ohne die vorneweg ausbuchstabierte gute Absicht eines Werks keine drei Schritte mehr gehen kann, ohne Angst vor der Dunkelheit zu bekommen, ist das ziemlich wohltuend. Während Europa gerade Abend für Abend vor dem Fernseher sitzt und seine Fußball-Nationalmannschaften anfeuert, kann man vor „Secondary“ noch einmal anders über Sport und Kunst nachdenken – und was sie eventuell gemeinsam haben.

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In den späten 1980er-Jahren, als Student, band Matthew Barney sich Seile um, befestigte sie im Raum und ging mit der Kraft seines Körpers gegen ihren Widerstand an, nur um unter der Decke oder an der Wand eine Zeichnung zu machen. „Drawing Restraint“ heißt diese Folge von Videos, die 1987 begann und deren Verschränkung von Athletik und Kreativität sich bis heute fortschreibt.

In einem zweiten Saal der Fondation hat Barney eine neue Skulptur aus Keramik gestellt. Sie imitiert in Lebensgröße ein sogenanntes Power Rack, wie man es in Fitnessstudios findet: einen erweiterbaren Metallrahmen, an dem man Kniebeugen, Bank- und Schulterdrücken oder Klimmzüge ausführen sowie Hanteln und anderes Kraftsportgerät aufbewahren kann.

Die Fragilität der Terrakotta, seine surreale Vertauschung mit dem stabilen Metall erzeugt eine Spannung, die Barney im Untergeschoss einlöst. Hier liegen deformierte Hantelscheiben, die weißen Wände tragen Schmierspuren, hier und da klebt ein Batzen Ton.

Für den Film „Drawing Restraint 27“ hat sich der Performer Raphael Xavier mit Karabinerhaken am Boden festgebunden und dann gegen den Widerstand des Seiles angekämpft. Anstatt mit den Hanteln zu trainieren, klatscht er sie gegen die Wand. Der einsame Kämpfer gegen die Leere und die eigenen Muskeln, die nur durch Überforderung wachsen können – das ist dann doch ein ziemlich gutes, dauerhaftes Bild.

Matthew Barney, „Secondary“: bis 8. September 2024, Fondation Cartier, Paris; bis 25. Juli 2024, Max Hetzler, Paris; bis 27. Juli 2024, Sadie Coles HQ, London; bis 26. Juli 2024, Gladstone Gallery, New York; bis 17. August 2024, Regen Projects, Los Angeles

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